Historiker-KI: Wie Künstliche Intelligenz jahrhundertealte Briefe liest – ohne diese zu öffnen

Historiker leben davon, alte Dokumente auszuwerten – ohne diese zu beschädigen. Mit Hilfe modernster Technik und Künstlicher Intelligenz ist es Wissenschaftlern des MIT nun gelungen, jahrhundertealte Briefe lesbar zu machen, die lange als verschollen galten. Dank KI bieten sich den Geschichtswissenschaften auf einmal völlig neue Chancen. 

Paris im Jahr 1697 – Jaques Sennacque sitzt an seinem Schreibtisch und schreibt. Er bittet seinen Vetter Pierre um eine beglaubigte Sterbeurkunde für einen Verwandten. Bevor Jaques nun den Brief quer durch Europa nach Den Haag schickt, verschließt er ihn. Nicht jeder soll den Inhalt lesen können, daher beginnt Jaques, den Brief aufwendig zu falten. Die Falttechnik ist so raffiniert, dass niemand mehr Teile der Nachricht erahnen kann. Zuletzt versiegelt er den Brief mit Wachs.  So beschreibt es Spektrum.de.

Als das Schriftstück im niederländischen Den Haag ankommt, fällt er Simone de Brienne in die Hände. Er ist Postbote. Der Brief von Jaque Sennacque an seinen Vetter Pierre ist seine letzte Sendung, die er für diesen Tag zustellen soll. Er klopft bei Pierre, doch niemand öffnet. Und so nimmt der Postbote Jaques‘ Brief mit nach Hause. Dort öffnet er eine alte Holztruhe und wirft den nicht zugestellten Brief zu etlichen anderen. Jaques Sennacques wichtiger Brief soll nie ankommen. 

Wenn KI Briefe röntgt 

Massachusetts im Frühjahr 2021 – Rund 350 Jahre später stehen Forscher des Massachusetts Institute of Technology (MIT) vor eben dieser Truhe. Mittlerweile ist sie als „Brienne Kollektion“ bekannt geworden. Der Postbote Simone de Brienne hatte darin über Jahrzehnte hinweg rund 3.100 Briefe gesammelt, die er nicht hatte zustellen können. Noch immer sind 577 dieser Briefe ungeöffnet. Viele Historiker haben Respekt davor, sie zu öffnen, aus Angst, sie zu beschädigen. Das Problem ist die auffällige Falttechnik, die auch Jaques Sennacque verwendet hatte, um seinen Brief zu schützen. Hintergrund: Der Briefumschlag wurde erst 1820 erfunden – und altes Papier, gerade, wenn es geknickt ist, gilt als sehr porös. 

Die Forscher des MIT haben jetzt einen Weg gefunden die Schriftstücke unbeschadet zu lesen und ihre Falttechnik zu untersuchen. Mithilfe einer Röntgen-Mikrotomographie durchleuchten sie Schriftstücke wie den Brief von Jaques. Anschließend erstellt ein Computer mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz ein 3D Modell davon. Sie faltet den Brief virtuell auf und analysiert die angewandte Technik. Dabei trennt sie die übereinanderliegenden Tintenklekse, bis eine Schrift erkennbar ist. Vier Briefe konnten die Wissenschaftler mit dieser Technik bislang öffnen und analysieren.

Für Historiker eine Sensation

Doch es geht den Historikern aus Massachusetts nicht nur um die Brienne-Kollektion. Ihnen liegt eine weitere Sammlung von nicht zugestellten und noch ungeöffneten Briefen mit rund 160.000 Schriftstücken vor, die sogenannten Prize Papers. Diese stammen aus dem 17.-19. Jahrhundert und wurden von der britischen Admiralität gesammelt. Die Kollektion bietet möglicherweise Einblicke in genauere Kriegstaktiken und Absprachen gegen die Briten. Auch das ein Fund, der viele Historiker begeistert.

Viele von ihnen setzen deswegen große Hoffnung in die Entschlüsselung durch KI, vor allem um neue Quellen zu erschließen. So glauben sie, mit Hilfe der Technologie innerhalb von wenigen Tagen zu aufschlussreichen Ergebnissen zu kommen – wo sie jetzt noch Jahre brauchen. Und das ist wichtig: Denn wahrscheinlich warten weltweit noch unzählige Briefe darauf, ihre Nachricht preiszugeben. Ausgerechnet die Technik der Zukunft hilft so, die Vergangenheit zu verstehen.  

Was KI darüber hinaus im Stande ist, das erfahren Sie hier.

Clutch-Redaktion