Warum KI die Reinvention weiter befeuert

Karl-Krainer-Gedankenfabrik

Wie sollte man mit jemanden in Shanghai anders kommunizieren, als via WeChat? Also rief Clutch-Chefredakteur Alexander Becker bei Karl Krainer, Gründer und Chief Thinker der Gedankenfabrik, natürlich über die chinesische Super-App an, um mit ihm über die technische Entwicklung im Reich der Mitte und den dortigen Stand in Sachen künstliche Intelligenz zu sprechen.

Lieber Karl, ich sitze gerade in Hamburg und Du bist in China auf Deiner Digital China Discovery Tour. Was sehe ich bei unserem mobilen Video-Call im Hintergrund?

Die Skyline von Shanghai.

Du stehst in einer Art Panoramabar. Dreht die sich etwa?

Ja. Da zeigt sich sehr schön die Dynamik in China. Ständige Veränderung eben.

Okay. Das können hier auch ein paar Fernsehtürme. Ansonsten: Ist der Unterschied zu Europa wirklich so groß?

In Bezug auf die Digitalisierung lautet die Antwort: ja. Wir sprechen hier nicht mehr über Digital Transformation, sondern über Intelligent Transformation. KI ist hier in China viel stärker vertreten – angewandte KI. Das zeigt sich längst im täglichen Leben.

Alexander Becker
Alexander Becker im Gespräch mit Karl Krainer

Wie zeigt es sich denn im Alltag?

Wenn man beispielsweise Alipay verwendet, dann zahlt man hier längst über Gesichtserkennung. Das Ganze fühlt sich in der Nutzung sehr intuitiv an. Auch das Einchecken in Co-Living/Working Spaces erfolgt darüber. Ein weiteres Beispiel ist der Bereich Fahrradverleih. Wenn Millionen von Fahrrädern über Mobike am Tag genutzt werden und über die Stadt verteilt sind, dann erwartet man am nächsten Morgen die geeignete Anzahl an den richtigen Leihorten. Auch das wird über KI gelöst. So beherrschen hier längst diverse KI-Anwendungen den Alltag.

An welchen weiteren Stellen ist KI schon ganz praktisch in China im Einsatz?

Im Retail-Bereich wird sie bereits stark genutzt. Hier hat Alibaba mit „Reinventing Retail“ ein spannendes Mantra ausgegeben. Die Hema-Märkte sind ein schönes Beispiel dafür.

Das sind die High-Tech-Lebensmittelläden von Alibaba?

Genau. Wir waren in Hangzhou in einem Hema-Markt mit einem tollen Frischeangebot. Man kann über die Hema-App vertreten Produktinformationen abrufen. Ein Koch verarbeitet auf Wunsch die eingekauften Produkte. Das ganze Konzept ist auf ein möglichst tolles Einkaufserlebnis ausgelegt. Gleichzeitig kann ich online bestellen und bekomme innerhalb von 30 Minuten in einem Radius von drei Kilometern alles geliefert. Auch das ist ein Datenspiel. Alibaba hat hier die Off- und Onlinewelten verknüpft. Die Flächenproduktivität des Marktes verdoppelt sich. Das wäre ohne KI nicht möglich.

Aldi hat in Shanghai gerade ebenfalls eine High-Tech-Filiale eröffnet. Der Discounter wirkt in China weit weniger bodenständig als hierzulande.

Das ist in der Tat so. Der Discounter hat bei seinem Supermarkt-Storekonzept die spezifischen chinesischen Anforderungen berücksichtigt. Hier hat sich Aldi vollkommen neu erfunden.

Wir sollten China als Inspirationsfeld sehen und versuchen, es mit dem westlichen Wissen zu verknüpfen.

Reinvention sozusagen. Was bedeutet für Dich dieser Begriff?

Aldi beschreitet neue Wege. Tolle qualitativ hochwertige Produkte, von Baby Care bis Premium Whiskey. Kosmetikprodukte werden im Store präsentiert, um sie dann online auf Aldis Flagshipstore bei Tmall bestellen zu können. O2O, das heißt Offline to Online at its best. Das sollten sich die deut- schen Händler am besten vor Ort ansehen.

Was kann die europäische oder die deutsche Tech-Szene von China lernen?

Wir sollten China als Inspirationsfeld sehen und versuchen, es mit dem westlichen Wissen zu verknüpfen. Gerade im KI-Bereich könnten wir mit smarten Lösungen mitmischen. Mit KI macht sich ja insgesamt der ganze Digitalmarkt wieder auf.

Auf welche Anwendungen sollten wir hierzulande erst einmal unser Augenmerk richten?

Als Basis hat sich in China das mobile Bezahlen durchgesetzt. Der Brückenkopf dafür sind unter anderem QR-Codes, die auf sehr einfache Art und Weise neue Möglichkeiten eröffnen. Diese Enabling Technologien sind neben neuen Logistikformen die Grundlage für neue Services. Hier sollten wir versuchen, mehr auszuprobieren und dadurch zu lernen.

Welche Trends nimmst du mit nach Hamburg zurück?

Das Thema Machine Learning/Deep Learning wird immer wichtiger. Bytedance als eines der derzeit hottesten Tech- Unternehmen hat mit seiner KI-basierten Nachrichtenseite Toutiao einen neuen Trend zu individualisierten Nachrichten gesetzt und versucht jetzt, dieses Wissen auch auf das im Westen bekannte TikTok zu übertragen. Auch interessant: WeChat ist eine Art Super-App. Denn die Chinesen nutzen das Internet mobil. Auch die Bedeutung von Suchmaschinen ist weit geringer. So deckt WeChat diverse Dienste in einem System ab. Kein Grund für die Nutzer, woanders hinzugehen.

Der alte AOL-Traum von einem Web-Portal als Betriebssystem für das Internet?

Absolut. So ist in China der ganze Markt nur unter wenigen – dafür aber sehr großen – Playern (Baidu, Alibaba, Tencent, JD.com und Xiaomi) aufgeteilt. Alle Träume, alle erdachten Möglichkeiten passieren hier gerade. Aber hier ticken auch die Konsumenten anders. Sie befinden sich in einer ständigen Transformation. Hier gilt: 2019 is just the beginning.

Können die nächsten Monate und Jahre auch für die deutsche Tech-Szene ein „Beginning“ werden?

Auf jeden Fall. Und nicht nur für die Tech-Szene. Vor allem Unternehmen sollten sich mehr trauen, Mutiges zu kreieren und sich neu zu erfinden. Ein Blick oder besser eine Reise nach China hilft dabei immens.

Vielen Dank für das Gespräch, Karl.

Karl Krainer, von der Strategie- und Transformationsberatung Gedankenfabrik, arbeitet zurzeit unter Hochdruck an seinem neuen Reinvention-Management-Ansatz. Hier fließen seine Erkenntnisse aus West und East zusammen. Es soll Unternehmen und Managern aufzeigen, wie sie sich immer wieder neu erfinden können, um auch in Zukunft erfolgreich zu sein.

Dieses Interview ist Teil der neuen Clutch. Das Technologie- und Gesellschaftsmagazin beschäftigt sich in dieser Ausgabe monothematisch mit dem Thema künstliche Intelligenz. Das Heft lässt sich hier bestellen. Sie zahlen nur so viel, wie Ihnen das Magazin wert ist.

Clutch-Redaktion