Start-Up Tibber: „Wir machen Strom und Digitalisierung sexy“

Es war ein Freitag im Oktober 2015 als Edgeir Aksnes und Daniel Lindén beschlossen, den Strommarkt zu revolutionieren. Die beiden arbeiteten damals für eine norwegische Software-Firma und hatten den Auftrag, für einen Energieversorger eine neue Software zu entwickeln. Und es kam ihnen einiges seltsam vor: Denn trotz der Liberalisierung vor 20 Jahren bestimmen noch immer vor allem traditionelle Stromkonzerne den Markt. Ihre Geschäftsmodelle sind nahezu identisch. Und Innovationen? Fanden sie nur wenige.

Erstaunt stellten Aksnes und Lindénist fest, dass Strom zum Beispiel in Deutschland noch nahezu genauso vertrieben wird wie vor 70 Jahren: Das meiste analog, fast nichts digital. Der Schwede und der Norweger setzen sich an jenem Oktober zusammen und überlegten mit einem weißen Blatt Papier: Wie könnte eine zeitgemäße Energieversorgung aussehen? Klar war: Sie sollte modern, transparent und digital sein. Aber nicht der Technik willen. Sondern um Werte zu schaffen. Werte wie Nachhaltigkeit oder Umweltschutz – und das am besten ohne erhobenen Zeigefinger. Mit dieser Vision gründeten Edgeir und Daniel das Unternehmen Tibber. „Tibbis“ ist lateinisch und bedeutet „Für Dich“. Für sie heißt das: Für den Kunden.

Deutschlands Strom: teuer und digital abgehängt

Um Tibber zu verstehen, muss man etwas ausholen. Bislang läuft es so: Strom wird entweder an der European Energy Exchange (EEX)-Börse oder direkt zwischen Produzenten und Großabnehmer gehandelt. Der Preis richtet sich klassisch nach Angebot und Nachfrage. Wenn zum Beispiel starker Wind die Windräder antreibt, sinken an der Börse die Preise. Fällt ein großes Kraftwerk aus, steigen sie. So ändert sich der Strompreis minütlich. Wenn viel mehr Strom erzeugt als gebraucht wird, kann es sogar zu negativen Preisen kommen. „Das Problem ist, dass die Haushalte von diesen Preisschwankungen nicht profitieren“, kritisiert Marion Nöldgen, Managing Director von Tibber in Deutschland.

Hierzulande zahlen Stromkunden knapp 31 Cent pro Kilowattstunde – laut Stromreport so viel wie nirgends sonst in Europa. Zwar diskutiert die Politik immer wieder verschiedene Modelle, um die Strompreise zu senken, trotzdem haben sie sich seit 2000 mehr als verdoppelt. Gründe dafür gibt es viele. „Die Marktrealität in Deutschland ist komplett absurd“, sagt Nöldgen im Podcast „How to hack“ von Business Punk. Viele Zähler seien noch immer analog. Auch die Kommunikation vieler Stromanbieter mit den Kunden laufe erstaunlich oft noch per Brief oder Fax. „Was die Digitalisierung des Stromes betrifft, befindet sich Deutschland auf dem gleichen Level wie Griechenland, Ungarn oder Bulgarien“. Also ziemlich weit hinten. Vorreiter sind – wie so oft – die skandinavischen Länder.

Flexible Strommodelle sind gefragt

Die Geschichte von Tibber klingt fast ein wenig wie der Kampf von David gegen Goliath. Auf der einen Seite das kleine Start-Up, auf der anderen Seite riesige Energiekonzerne aus ganz Europa.  „Unterschätzt zu werden ist eine gute Position“, lacht die Managing Directorin im Gespräch mit der Clutch. Tibbers größte Waffe ist ein komplett digitalisiertes Geschäftsmodell. Der Claim: „Wir wollen weniger Strom verkaufen“. Tibber gibt an, Öko-Strom zum flexiblen Einkaufspreis ohne Aufschläge direkt an die Kunden weiterzugeben. Die bekommen per App für monatlich 3,99 Euro (aktuell durch die Mehrwertsteuersenkung 3,89 Euro) in Echtzeit Einblicke in ihren Stromverbrauch. So sehen sie, wann der Strom gerade besonders günstig ist. Laut Tibber profitieren insbesondere E-Auto-Fahrer. Beim sogenannten Smart Charging können sie das E-Auto automatisch in den Stunden des Tages laden, in denen der Preis am niedrigsten ist. So sollen sie bis zu 20 Prozent der Kosten sparen. Besitzer eines sogenannten Smart-Meters sogar bis zu 30 Prozent.

Mit der App verdient das Unternehmen Geld. Dazu kommen smarte Geräte wie Thermostate, um Heizungen zu regulieren oder intelligentes Zubehör für Elektroautos. „Die alten Energieunternehmen (…) haben die Macht, das Geld und die Leute und wollen die Macht nicht an ihre Kunden weitergeben“, sagt Aksnes gegenüber dem Handelsblatt. Genau das wolle Tibber ändern. Die Deutschen scheinen für solche Ideen offen zu sein. Bereits 2017 fand der digitale Branchenverband Bitkom in einer Studie heraus, dass sich 62 Prozent der Bundesbürger vorstellen können, einen flexiblen Stromtarif zu nutzen.

Noch ist viel Grundlagenarbeit notwendig

In Schweden, Norwegen und Deutschland ist Tibber bereits vertreten. Aktuell wird das neue Büro in Berlin bezogen. Das Unternehmen hat auch schon weitere Pläne: Es plant, in Europa zu expandieren. Speziell hierzulande müsse noch viel grundsätzliche Aufklärungsarbeit geleistet werden, sagt Marion Nöldgen. Die Generation Friday for Future denke bereits ökologisch und digital. Doch um wirklich etwas zu verändern, müssten gerade auch die Älteren mitgenommen werden. Jene, die skeptisch gegenüber der Digitalisierung seien und schon seit Jahrzehnten den gleichen Stromanbieter haben. Das Start-Up zeigt sich selbstbewusst, diese Herausforderung zu meistern.

Clutch-Redaktion