Filterblasen, Informationsflut, Monopole: Ist das Web zum 30. Geburtstag kaputt? Wir haben Branchenkenner gefragt

30 Jahre Internet – Eigentlich ein Grund zum Feiern, doch WWW-Erfinder Tim Berners-Lee glaubt inzwischen, dass das Internet kaputt sei. Mit dieser Einschätzung hat er eine viel diskutierte Debatte angestoßen, über die Schwächen des Internets und wie das WWW eigentlich noch zu retten ist.

Branchenkenner haben uns verraten, ob Sie die Einschätzung Tim Berners-Lees, das Internet sei kaputt, teilen. Außerdem wollten wir wissen, wie sich das WWW wieder reparieren lässt und wie sie sich das Internet der Zukunft vorstellen.

Georg Sobczak, Managing Director DACH Criteo

WWW-Erfinder Tim Bernes Lee glaubt, dass das Internet mittlerweile kaputt sei. Hat er recht?
Ich denke nicht, dass das Internet kaputt ist, aber es ist unglaublich voll. Einfach an die Informationen zu kommen und die Dinge zu erledigen, die man möchte, ist schwer geworden. Der Mensch jedoch liebt Einfachheit und fokussiert sich aus diesem Grund zumeist auf wenige Anbieter, die den Großteil seiner Bedürfnisse decken. So entstand auch die Dominanz einiger weniger großer US-Firmen. Diese wissen mehr über ihre Nutzer als wohl sonst irgendjemand und sie verstehen dieses Wissen auch entsprechend zu Geld zu machen. Daten sind das Öl des 21. Jahrhunderts und der Garant dafür, den gewonnenen Vorsprung immer weiter auszubauen. Daher stellt sich zu Recht die Frage: Ist diese Oligopolisierung noch im Sinne der Nutzer? Und lässt es diese Konzentrierung auf einige wenige Anbieter noch zu, dass alle Nutzer alle Informationen noch unabhängig bekommen?

Kann man etwas dagegen tun?
Das Internet ist heute wie der Wilde Westen früher. Als die Pioniere an der Ostküste ankamen, lagen über 4.000 Kilometer unberührtes Land vor ihnen. Jeder konnte seinen Claim abstecken. Die schnellsten und stärksten unter ihnen aber erarbeiteten sich in diesem Spiel schnell Vorteile. Auf die ersten erschlossenen Ölquellen folgten schnell weitere, mit dem wachsenden Kapital wurde expandiert und in Immobilien oder gar die Eisenbahn investiert. John D. Rockefeller wurde auf diese Weise der erste Milliardär der Weltgeschichte und die von ihm mitbegründete Standard Oil Company marktbeherrschend. Bis der Staat eingriff und das Unternehmen 1911 in 34 Gesellschaften zerschlug. Der Staat muss immer ein wachsames Auge haben und überlegen, wann er regulierend eingreifen muss, sollte er die Chancengleichheit gefährdet sehen. An diesem Punkt ist das Internet angelangt. Dies war mit ein Grund, warum die DSGVO für mehr Datentransparenz ins Leben gerufen wurde. Und aus diesem Blickwinkel ist auch das immer stärkere Augenmerk auf die Aktivitäten der GAFAs zu sehen.

Wie sieht das Internet in fünf, zehn oder gar 30 Jahren aus?
Man wird keine Sätze mehr sagen wie: Ich gehe online. Das Internet wird vielmehr immer und überall verfügbar sein und Menschen, Dinge und Services miteinander verbinden. Diese grundumfassende Konnektivität wird das wesentliche Merkmal des Internets der Zukunft sein.

Martin Wider, Senior Managing Partner Seven Squared – Strategieberatung der PIA

WWW-Erfinder Tim Bernes Lee glaubt, dass das Internet mittlerweile kaputt sei. Hat er recht?
Tim Bernes Lees Vison war und ist es, durch den globalen freien Austausch von Informationen das Leben der Menschen durch das Internet zu verändern und zu verbessern. Sein Ansatz war von grenzenlosem Optimismus und individuellen Empowerment durch Technologie geprägt. Heute erscheint vielen das Internet als dunkler Ort, der beherrscht wird von Fake-News, Russland-Trollen, Hassbotschaften, Kinderpornografie im Dark Net, Zensur und Social Scoring. All die negativen Aspekte dominieren die Diskussion und drängen die weiterhin positiven Aspekte in den Hintergrund. Das Internet ist nicht kaputt, es hat nur eine zusätzliche negative Dimension bekommen. Oder um die Amazon Prime Serie Beat zu zitieren: ‚Das Böse ist im Guten schon angelegt!‘

Wenn ja, was kann man tun, um es wieder zu reparieren?
Es geht weiterhin um den freien Austausch von Informationen, um das Leben der Menschen durch das Internet zu verbessern. Deshalb gilt es den Zugang zum Netz weiter auszubauen und zu forcieren – ganz besonders in den sogenannten Entwicklungsländern.

Was in China zur Zeit mit „Social Scoring“ passiert sowie jede andere staatlich regulierte Zensur muss unter allen Umständen unterbunden werden. Stichwort Artikel 13 und Upload-Filter!

Ich möchte hier nicht zur Zerschlagung der GAFA-Plattformen aufrufen, aber die Zentralisierung hat ihre Grenzen erreicht, ein weiteres Erstarken bestehender Player muss unterbunden werden. Der erste Schritt wäre ja schon eine faire Besteuerung durch eine Digitalsteuer in den Ländern.“

Der letzte und wahrscheinlich wichtigste Punkt ist das Recht an eigenen Daten und die faire Teilhabe an der Vermarktung dieser Daten. Dafür gibt es unterschiedliche Ansätze, die aber noch nicht praxistauglich sind. Das wird aber bestimmt kommen.

Michael Pruban, CMO TEAL AI

WWW-Erfinder Tim Bernes Lee glaubt, dass das Internet mittlerweile kaputt sein. Hat er recht? Wenn ja, was kann man tun, um es wieder zu reparieren?
Das Internet ist per se nicht kaputt. Doch Großkonzerne geben aktuell ihr Bestes, um es zu zerstören.  Damit meine ich sowohl diejenigen, die mit den Daten ihrer User Geld verdienen, um ihren Profit zu steigern, als auch jene, die ihre Machtposition (aus)nutzen, um Diktaturen und Regime aufzubauen. Dieser falschen Entwicklung kann und muss man entgegenwirken. Das Internet kann dann repariert und gerettet werden, wenn man seine ursprünglichen, positiven Aspekte verstärkt. Das Web wurde entwickelt, um Menschen miteinander zu verbinden. Und genau dort gilt es wieder anzusetzen. Die Blockchain spielt dabei eine entscheidende Rolle. Dank ihrer dezentralen Infrastruktur kann der Nutzer seine Datenhoheit zurückerlangen und das Internet so reparieren.

Wie sieht das Internet in fünf, zehn oder gar 30 Jahren aus?
In 30 Jahren wird das Internet nicht nur viel schneller sein, sondern auch noch viel mehr Bereiche des Lebens einnehmen. Alle Geräte, die wir tagtäglich nutzen, sind dann miteinander verbunden. 2050 wird es auch keine Suchmaschinen mehr geben, die zentralisiert von einem Unternehmen geführt werden. Das Internet läuft dann auf Blockchain-Basis. Das ermöglicht alle Informationen dezentral abzulegen. Die Informationen werden direkt an den Nutzer herangetragen und er muss sie nicht mehr selbst aufwendig im Netz suchen. Der schönste Aspekt an dieser Entwicklung ist, dass keine zentrale Instanz mehr die Kontrolle über Daten innehat.

Willms Buhse, CEO doubleYUU

WWW-Erfinder Tim Bernes Lee glaubt, dass das Internet mittlerweile kaputt sein. Hat er recht? Wenn ja, was kann man tun, um es wieder zu reparieren?
Wir, die wir schon sehr früh im Internet unterwegs waren, verbanden mit dem weltweiten Web eine große Hoffnung für eine bessere Kommunikation, Völkerverständigung und Demokratisierung. Heute wissen wir, dass Web befeuert keine balancierten Diskussionen, sondern vor allem extreme Meinungen. Bei Regierungen und Behörden löst das Web zudem den unstillbaren Drang aus, mehr Kontrolle und Regulierung ausüben zu wollen. Beides tut dem Web nicht gut.

Wie können wir es reparieren?
Wir Menschen konnten bislang noch jedes Problem lösen. Auch das bekommen wir hin. Ein erster Schritt wäre vielleicht, bewusster und transparenter zwischen Bereichen zu trennen in denen wir mit unserer echten Identität unterwegs sind (mit entsprechender Sicherheit und Datenschutz) und Bereiche der Anonymität wie der des Darknets. Verhindern lassen sich weder eine Kommerzialisierung noch der Wunsch nach Anonymität. Aber vielleicht nicht im selben digitalen Raum.

Wie sieht das Internet in fünf, zehn oder gar 30 Jahren aus?
Als Trend-Scout im Silicon Valley habe ich viele der wichtigsten, einflussreichsten und schlausten Vordenker der Online-Welt getroffen. Und selbst die konnten schon keine ernsthaften Voraussagen für die nächsten treffen. Daher enthalte ich mich in Demut – werde aber selber weiter meinen Beitrag leisten, das Internet für Wirtschaft und Gesellschaft  weiterzuentwickeln.

Claas Voigt, Geschäftsführer emetriq

WWW-Erfinder Tim Bernes Lee glaubt, dass das Internet mittlerweile kaputt sein. Hat er recht?
Ich sehe eher eine deutliche Gefahr durch die Filterblasen, die im Internet oder durch das Internet entstehen und zu einer massiven Radikalisierung von Debatten führen. Hat man sich früher noch bewusst Menschen gesucht, die einen anderen Standpunkt hatten, um sich dann in einer Debatte auszutauschen, führt die Bequemlichkeit der Menschen und ihr Wunsch nach Zuspruch heute dazu, dass sie sich in der digitalen Welt unter Gleichgesinnten bewegen und immer radikaler werden müssen, damit sich noch hervorstechen mit ihren Ansichten. Das Internet fördert diese Entwicklung. Das macht das Internet zwar nicht kaputt, ist aber eine Gefahr für die friedensstiftende Gesellschaft.

Das kann noch gefährlicher werden, wenn wir mit KI nicht vernünftig umgehen. Wenn Assistenzsysteme mich leiten und lenken können, stellt sich für jeden die Frage, wie weit gebe ich mich und meine Freiheit auf für Bequemlichkeit. Das ist ein ganz neuer Deal. Um es auf den Punkt zu bringen, ich glaube nicht, dass das Internet kaputt ist, es ist inzwischen gefährlich für die menschliche Interaktion und die Demokratie.

Wenn ja, was kann man tun, um es wieder zu reparieren?
Die Generation von morgen muss erkennen, wo sie ihre Stimme abgibt. Sie muss verstehen, dass sie nichts Neues erfährt, wenn sie sich zu lange in einer Filterblase aufhält. Das hat nichts mit Medienkompetenz, Fake News Probleme haben wir in 5 Jahren nicht mehr, weil KI das erkennt. Die Gesellschaft muss sich das Debattieren wieder beibringen.

Wir müssen zudem gegen die Monopolisierung im Hinblick auf den Zugang und die Nutzung von Daten wirken. Auch wenn Daten per Gesetz zu Allgemeingut zu erklären, wie es die SPD plant, sicher keine sinnvolle Lösung ist. Kollaborative Data-Sharing-Modelle ermöglichen  Unternehmen einen fairer Zugang zu Daten und sind einzige Weg, um nennenswerte Datenmengen für zukunftsweisende Innovationen zusammenzubringen.

Wie sieht das Internet in fünf, zehn oder gar 30 Jahren aus?
Die Gesellschaft wird einen anderen Zugang zu Besitz bekommen. Stichwort: Shared Economy. Das Nächste was die heranwachsende Generation abschafft, ist das Auto. Ich persönlich finde alle diese wirklich disruptiven Ansätze, die durch Digitalisierung und das Internet möglich werden und meinen beschleunigten Alltag erleichtern, ohne die Welt kaputt zu machen, spannend und vielversprechend, Flixbus etwa. Im Gesundheitswesen wird viel auf Distanz funktionieren und emotionslose Jobs, wie Steuerberater oder Anwälte werden durch Digitalisierung wegfallen.

Wir Menschen werden ganzheitlicher und der berufliche Fokus wird sich viel stärker auf Kreativität und emotionale Intelligenz ausrichten. Den aktuellen Fachkräftemangel werden wir durch KI ersetzen müssen, aber das dauert sicher länger als 10 Jahre.

Thomas Kabke-Sommer, Geschäftsführer Crossplan

WWW-Erfinder Tim Bernes Lee glaubt, dass das Internet mittlerweile kaputt sei. Hat er recht?
Im Sinne des Ursprungsgedanken von Tim Berners-Lee ist das Internet durchaus kaputt. Weltweit gibt es viele Barrieren und Mechanismen, die einen freien Informationsfluss im Netz einschränken oder sogar ganz blockieren. Ein genauerer Blick auf das Prinzip der wissenschaftlichen Informationsfreiheit zeigt beispielsweise, dass diese bei weitem nicht weltweit durchgesetzt ist. Ähnliches gilt für die Idee der freien Weitergabe von Web-Technologien. 

Wie sieht das Internet in fünf, zehn oder gar 30 Jahren aus?
In den kommenden Jahren werden wir eine Zerklüftung der Informationszugänge erleben. Konkret werden Menschen, die in freien Gesellschaften leben nicht nur einen anderen Zugang zum Internet haben, sie werden auch Zugriff auf ein anderes Niveau von Informationen haben, als Menschen, die in autokratischen Systemen leben. Das Netz wird so die Zugehörigkeit zu Klassen manifestieren, ganz getreu dem Motto Wissen ist Macht.

Cosmin Ene, CEO LaterPay

WWW-Erfinder Tim Bernes Lee glaubt, dass das Internet mittlerweile kaputt sei. Hat er recht?
Das Internet war nie kaputt. Ich sehe eher, dass es nun eine Maturität erreicht, in der nachhaltige Geschäftsmodelle gedeihen können. Das verlangt eine konsequente Ausrichtung an den User-Bedürfnissen. Vor allem von denen, die das Internet bisher nicht als Tool begriffen haben, um Gold aus der Grube zu heben, sondern als seichtes Gewässer, das es ihnen vor die Füße schwämmt. Als Verlage vor 15 Jahren auf Werbung und Reichweitenmodelle gesetzt haben, haben sie zugleich beschlossen nicht mehr dem Leser zu dienen, sondern dem Werbetreibenden. Zu lösen ist das nur durch eine konsequente Zuwendung zum User – was wir schon seit vielen Jahren betonen und auch der Reuters Report postuliert. Es muss also der Kniefall vor dem User erfolgen, bevor das Internet zu der Goldgrube wird, für die die Inhalteanbieter es immer gehalten haben. Wenn sie die Qualität ihrer Produkte erhöhen, wenn sie dem User die Wahl lassen, wie er dafür zahlt, wenn der Nutzer an der Wertschöpfungskette teilhat, statt ihr Produkt zu sein.

Stefan Bernauer, Director DACH Rakuten Marketing

WWW-Erfinder Tim Bernes Lee glaubt, dass das Internet mittlerweile kaputt sei. Hat er recht?
Wenn Tim Berners-Lee behauptet, das Internet sei kaputt, hat er bezüglich Online-Werbung zumindest teilweise Recht. Viele Deutsche haben generell den Mehrwert digitaler Werbemittel grundsätzlich verstanden, aber die Umsetzung kritisieren sie“, sagt Stefan Bernauer, Director DACH bei Rakuten Marketing. „Unsere Branche muss also nicht darüber aufklären, warum Werbung das Fortbestehen des freien Internet sichert. Vielmehr muss sie selbst einen Mindshift schaffen zu qualitativ hochwertigen Werbeerlebnissen. Digital-Werbung braucht ein neues, auf den Nutzer ausgerichtetes Qualitätsverständnis.


(Beitragsbild: Klaus Knuffmann)

Clutch-Redaktion