Achtung Sturzgefahr! Ein Warnhinweis, den die meisten Menschen gerne und häufig ignorieren – meistens ohne Folgen. Für Ältere dagegen ist das Hinfallen eine sehr ernsthafte Gefahr, mit teilweise schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen. Rund ein Viertel der jährlich diagnostizierten Oberschenkelhalsbrüche, die beispielsweise eine typische Sturzfolge sind, ereignet sich in Altenheimen und Pflegeeinrichtungen. Und genau dorthin geht das Hamburger Start-up Retrobrain, um mit seiner memoreBox Senioren dabei zu helfen, sich fit zu halten und das eigene Sturzrisiko zu mindern.
Die memoreBox ist eine Gamingkonsole, die nicht mittels Controller zu bedienen ist, sondern von Spielern ganzen Körpereinsatz verlangt. Der Vergleich mit der Nintendo Wii drängt sich auf. Das möchte Retrobrain-Geschäftsführer Christian Goergen aber nicht gelten lassen: „Wir sind nicht einfach die Wii für Senioren. Es geht nicht bloß darum, Heimbewohnern einen Zeitvertreib zu bieten. Die memoreBox ist ein zertifiziertes Medizinprodukt, das dazu beiträgt, das Sturzrisiko der Anwender zu mindern. Die Idee der memoreBox ist im Kern, konventionelle therapeutische beziehungsweise präventive Übungen zu gamifizieren und somit spielerisch die eigene Lebensqualität zu verbessern oder zumindest zu erhalten.“ In verschiedenen Szenarien schlüpfen die Spieler beispielsweise in die Rolle eines Briefträgers auf dem Fahrrad, drehen Runden mit dem Mofa, kegeln oder spielen Tischtennis.
Jeder dritte ältere Deutsche stürzt einmal jährlich. Allein die Kosten, die in Deutschland für die Behandlung von Hüftverletzungen anfallen, summieren sich laut Statistischem Bundesamt jedes Jahr auf rund zwei Milliarden Euro. Für die Betroffenen bedeutet ein Sturz oft eine tiefe Zäsur: Sie werden ängstlich, unsicher und ziehen sich zurück. Die soziale Isolation in Kombination mit dem verschlechterten körperlichen Zustand fördert die Entstehung chronischer Krankheiten, die wiederum behandlungsbedürftig sind. Wie wichtig die Sturzprävention für ältere Menschen ist, liegt auf der Hand.
memoreBox ist zertifiziertes Medizinprodukt
Über 100 Altenheime in Deutschland nutzen die memoreBox bisher. Zwar ist die Inbetriebnahme der Box einfach zu bewerkstelligen, das kann die Haustechnik vor Ort machen. Da es sich aber um ein zertifiziertes Medizinprodukt handelt, muss das Personal speziell geschult werden. Das übernehmen Experten des Retrobrain-Teams. In sogenannten „Aufstellevents“ leiten zertifizierte Medizinproduktberater das Heimpersonal initial an und begleiten die erste Spielerunde der Bewohner. Bald schon will Retrobrain das auch vollständig digital begleiten können, sodass kein Vor-Ort-Einsatz der Mitarbeiter mehr notwendig ist.
Bisher musste Heime beziehungsweise deren Träger die Anschaffung der memoreBox noch selbst tragen. Inzwischen bietet das Start-up aber eine Lösung, nach der die Einrichtungen die Kosten zu 100 Prozent über eine Dauer von 24 Monaten zurückerstattet bekommen. Laut Goergen „ein riesiger Meilenstein für Retrobrain und vor allem auch für die Pflegeheime“.
Retrobrain ist eine Ausgründung der Humboldt-Universität Berlin und bekam im Rahmen des Exist-Programms Starthilfe durch das Bundeswirtschaftsministerium. Bei dem Start-up arbeiten Experten aus Medizin, Software-Entwicklung und Betriebswirtschaft interdisziplinär zusammen. Sie alle treibt der Wunsch, etwas sinnstiftendes zu tun. So haben viele Developer, die nun die Spielemodule für die memoreBox bauen, zuvor bei großen Gaming-Entwicklerstudios gearbeitet. „Viele unserer Developer konnten sich nicht mehr mit der Entwicklung von Casual Games identifizieren. Bei Retrobrain verbindet uns die Motivation, mit unserer Arbeit auch einen sozial-gesellschaftlichen Beitrag leisten zu können“, erläutert Goergen.
Das Start-up leistet mit dem Präventionsansatz seiner memoreBox Pionierarbeit. Denn andere Health Games beschränken sich bisher vor allem auf die Vermittlung von Wissen. So geben diese lediglich Anleitungen, beispielsweise zum richten Zähneputzen. Daneben gibt es durchaus Fitness-Videospiele, die ähnlich wie die memoreBox die kognitiven und physischen Fähigkeiten älterer Menschen verbessern können, sie sind aber nicht für medizinische Zwecke konzipiert. Hinzu kommt, dass die Spielemodule der memoreBox sich auch für die Behandlung und Prävention von Demenzerkrankungen eignen.
„Ein sinnstiftendes Produkt anzubieten und dennoch profitabel zu arbeiten, steht für uns in keinem Widerspruch“
Natürlich muss das Digital Therapeutics (DTx) Start-up auch Geld verdienen. Neben dem Vertrieb der memoreBox hat Retrobrain drei Business-Säulen aufgestellt: memoreCare, dazu zählt die memoreBox inklusive der medizinisch evidenzgetriebenen Spieleentwicklung. Die Anwendung ist als Medizinprodukt für die Sturzprävention geeignet. Unter memoreHome möchte Retrobrain die Box auch Privatpersonen zugänglich machen. Senioren sollen die Möglichkeit haben, sich so lange wie möglich auch in den eigenen vier Wänden fit zu halten. Und schließlich gibt es memoreMed. Darunter fallen therapeutische Übungen, die sich speziell für die Behandlung eines Krankheitsbildes wie Parkinson eignen.
Goergen, der selbst als Pflegeassistent gearbeitet hat, wünscht sich für die Zukunft, dass Retrobrain weiterwächst. Die Herausforderung bestehe darin, sich als Social Business im For-Profit-Bereich schnell weiterzuentwickeln und viele Nutzer zu gewinnen. Denn erfolgreiches Wachstum bedingt den angestrebten Social Impact. Das Geschäftsmodell der Hamburger überzeugt ihre Investoren. Bisher konnten sie einen siebenstelligen Betrag einsammeln.
(Beitragsbild: Retrobrain)