Ein Algorithmus, uns alle zu kontrollieren

Marcus John Henry Brown (Bild: Raimund Verspohl)

clutch-logo-grün-freigestellt-klein-taglineMarcus John Henry Brown, Gründer und Managing Director von MJHB, war schon immer von Dystopien fasziniert. Eines Tages fragte er sich, was passieren würde, wenn ein dunkler Marketing-Held die Weltherrschaft an sich reißt und ein System erschafft, das die Welt zu einem hellen, kalten Raum macht, der aus endlosem Shopping besteht. Die Idee einer solchen Zukunft ließ Brown nicht mehr los und er entwickelte einen Über-Algorithmus namens RACHEL. Wie er zu seinem Werk steht und welche Prinzipien er für den Aufbau einer dystopischen Zukunft des Marketings sieht, erläutert er in einem Gastbeitrag für Clutch.

Als Kind der 80er Jahre (1971 geboren) denke ich natürlich oft über den Weltuntergang nach. Vor allem darüber, wie er geschehen wird und was die Gründe dafür sein werden. Dieses leicht morbide Hobby könnte etwas damit zu tun haben, dass Margaret Thatcher mir als Grundschüler die Schulmilch wegnahm. Damit, und mit der ständigen Bedrohung eines thermonuklearen Krieges. Und mit Electro-Pop. Schon immer haben mich die dunkleren Geschichten über eine düstere Zukunft fasziniert. Tausende Stunden habe ich damit verbracht, mich in den Werken von Aldous Huxley, George Orwell, J. G. Ballard und Philip K. Dick zu verlieren. In ihren großartig verstörenden Dystopien. Ihre Geschichten sind voll von Bösewichtern, abgründigen Systemen und mysteriösen Herrschern, die Heime, Hirne und Herzen von Millionen Menschen kontrollieren.

Die Dystopie ins Herz der Kommunikation rücken

Häufig saß ich als Erwachsener dann in Konferenzen wie der Dmexco und hörte unfassbar cleveren Leuten zu. Wie sie über die Zukunft der Kommunikation, des Marketings und der Wirtschaft insgesamt sprachen. Ich grübelte darüber nach, wie das alles für Leute außerhalb der Kommunikationsbranche klingen musste, für „normale“ Leute, also diejenigen, die wir als Konsumenten oder Zielgruppe bezeichnen. Meine Befürchtung ist, dass sie entsetzt wären und glauben würden, wir seien alle verrückt, enorm böse oder beides.

Was würde passieren, fragte ich mich, wenn der nächste große, dystopische Tyrann aus Marketing, Werbung, Vertrieb käme? Wenn er im Deutschland des Jahres 2017 leben würde, müsste er erst einmal intensiv daran arbeiten, dem Hype der Megathemen „Algorithmen“ und „Influencer“ zu entfliehen. Mit seiner eigenen Philosophie, seinen Einflüssen und krimineller Energie würde er ein System erschaffen, das die Zukunft prägt. Ungefähr so, wie Facebook eine Art Fortsetzung von Mark Zuckerberg ist, wäre unsere Marketingdystopie eine neo-millenniale Vision eines Marketing-Agenten: sauber, hell, kalt, segmentiert in Submärkte, voller Marken und bestehend aus endlosem Shopping.

Die Idee einer solchen Zukunft ließ mich nicht mehr los. An einem solchen Szenario habe ich deshalb seitdem gearbeitet, und das Herzstück ist ein Über-Algorithmus namens RACHEL. Zum ersten Mal präsentierte ich das Projekt 2014 in Berlin. RACHEL steht für „Realtime Algorithmic Chemical Enhancement Lady“ und ist das Produkt einer Zukunft, in der Beamte gemeinsam mit Marketingleuten das Sagen haben. Bond-Bösewichter, die Programmatic Advertising nicht nur beherrschen, sondern auch umgehen können und die ein sechsmonatiges Praktikum bei Group M absolviert haben: George Orwell meets Sir Martin Sorrell, und zusammen erschaffen sie einen Algorithmus uns alle zu kontrollieren. In den letzten drei Jahren hat sich RACHEL in ein Monster verwandelt. Meine Frau hasst RACHEL.

Ich habe sechs Thesen aufgestellt, die nicht nur die von RACHEL überwachte Welt ausmachen, sondern die auch eine Zukunft skizzieren, die meiner Ansicht nach in fünf Jahren Realität werden könnte. Eine Zukunft, die hyperneoliberal ab Werk ist.

Sechs Prinzipien für den Aufbau einer dystopischen Zukunft des Marketings

1. Algorithmen erscheinen menschlich
Algorithmen sind nichts als Code. Sie sind nicht physisch greifbar und trotzdem werden wir ihnen menschliche Eigenschaften zuschreiben. Von „Metropolis“ bis „2001: A Space Odyssey“ haben wir von Anfang an programmierbaren Systemen menschliche Fähigkeiten verliehen, zum Beispiel die menschliche Stimme. Es ist für uns dann viel einfacher, Algorithmen zu akzeptieren und die Tatsache zu verdauen, dass sie langsam, aber sicher die Weltherrschaft übernehmen. Der Algorithmus uns alle zu kontrollieren – wird sein Leben nicht als Terminator beginnen, sondern als gebrandeter Chatbot auf Facebook, der Fragen zu Pizzabelägen witzig beantwortet. Vor unserem geistigen Auge wird der Chatbot lächeln, aussehen wie Scarlett Johansson und uns einen fantastischen Tag wünschen samt Zwinkersmiley.

2. Sklaven des Algorithmus
Die automatischen Türen des Einkaufszentrums werden sich nicht öffnen, wenn Ihr Kredit-Score zu niedrig ist. Der Motor Ihres Tesla wird nicht anspringen wegen eines unbezahlten Strafzettels. Und Ihr Kühlschrank wird sich nicht öffnen lassen, weil Ihre Badezimmerwaage dem Algorithmus mitgeteilt hat, dass Sie 1,2 Kilogramm Übergewicht haben. Sie können die neunte Staffel von Game Of Thrones nicht bingewatchen, weil Sie nicht genug Werbung angesehen haben. Alles um sie herum ist mit dem Netzwerk verbunden. Alle Gegenstände spionieren Sie aus und berichten die Ergebnisse an Ihren eigenen Algorithmus, also einer Tochter von RACHEL, die aussieht wie Scarlett Johansson. Ihr Wasserkocher ist übrigens ein Doppelagent.

3. Algorithmen als Influencer
Wenn der Einfluss Ihres Algorithmus groß ist, können Sie in den smartesten Hotels übernachten, First Class reisen und bekommen Luxuswaren, um sie mit Ihren Freunden zu teilen. Sie werden die besten Gerichte in den exklusivsten Restaurants bestellen können und einen oder zwei Sundowner in den hipsten Bars der Welt trinken. Die Leute werden Ihnen nah sein wollen, aber nicht Ihretwegen – sondern wegen Ihres Algorithmus. Sie werden hungrig, traurig und einsam sein, wenn der Einfluss Ihres Algorithmus gering ist. Nur Shopping wird Sie befreien können.

4. Marketing für Algorithmen
Marketing- und Werbeagenturen werden sich nicht mehr damit aufhalten, Ihnen Werbung vorzusetzen. Sie sind zu langsam und  machen ohnehin nicht das, was man Ihnen sagt. Deshalb wird man die Werbung auf Ihren persönlichen Shopping-Algorithmus zuschneiden. Der schläft nie und verarbeitet in jeder Sekunde tausende Markenbotschaften. Ihr Algorithmus ist die Zielgruppe, weil er über die Kreditkartendaten verfügt und die Erlaubnis zum selbsttätigen Einkauf hat. Ihr Algorithmus kennt Sie. Und er ist eine bessere Zielgruppe als Sie. Eine viel bessere.

5. Die finale Disruption
Der Algorithmus sie alle zu beherrschen wird nicht im Silicon Valley geboren werden und wird nicht aus der Garage eines Nerds stammen. Facebook wird sich nicht zum Dämon der marketinggetriebenen Dystopie entwickeln. Denn Disruption kommt nie aus der Branche, die sie zerstört. Der Algorithmus, der unser Leben für immer verändern wird, wird wahrscheinlich in einem Chemie-Labor tief im Innern von WPP geschaffen werden. Geboren in einem Reagenzglas, nicht in einem Computer. Sir Martins Kind.

6. Der Algorithmus in unserem Innern
Mit 12,99 Euro für eine Packung zuckerfreier Tabletten ist das neue, chemische Internet billig, schnell, erreicht jeden vorstellbaren KPI und macht darüberhinaus umgehend süchtig. Wir werden immer online sein und Highspeed-Zugang haben, solange wir den Algorithmus schlucken, der jetzt in uns lebt und uns den Weg weist, uns informiert, uns formt und für uns einkauft. Unsere Körper werden nur noch gebraucht, damit der Algorithmus mobil ist. Wir leben um RACHEL in unserem Innern herum.

Wenn Sie also das nächste Mal eine Konferenz besuchen, wenn Sie das nächste Mal eine Präsentation über Bots, Codes und Algorithmen anschauen, fragen Sie sich: Was könnte passieren, wenn das in die falschen Hände fällt? Was für eine Parallelzukunft könnte man damit aufbauen? Planen die Leute um sie herum eine hellere Zukunft oder eine dunklere? Eine Marketingzukunft?

Was RACHEL so alles kann, hat Brown 2017 auf der republica demonstriert.

Über den Autor
Als Sohn eines schottischen LKW-Fahrers zog Marcus nach dem Studium (Kunst & Social Context am Dartington College of Arts) 1993 nach München. 2014 gründete er das MJHB Office for Creative Intelligence, 2015 CreativeWalks.com und 2017 das Black Operatives Department. Auf dem Blog Bynd48.com erscheint seine wöchentliche Serie „Memories From The Future“. Die Serie spielt im Jahr 2059 und zeigt auf, wie sich Technologien, Gesellschaft und Unternehmen der Gegenwart in der nahen Zukunft verändern. Unbedingte Leseempfehlung!

Mit dem Thema Künstliche Intelligenz beschäft sich auch die zweite Ausgabe von Clutch, die in wenigen Tagen erscheint. Leser erfahren unter anderem, wer Cortana, der digitalen Assistentin von Microsoft, ihre Persönlicheit einhaucht. Außerdem geht Clutch der Frage nach, ob wir bald alle Cyborgs sind. Die neue Ausgabe kann hier bestellt werden.

(Beitragsbild: Raimund Verspohl)

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Clutch-Redaktion