Im Herzen von Paris, genauer gesagt im neunten Arrondissement, zwischen Seine und Sacré-Cœur, arbeitet Romain Lerallut. Seine Aufgabe: Die Werbe- und Marketingwelt wieder um ein paar Jahrzehnte zurückdrehen, in einen Zustand, in dem Reklame und Verbraucherinformationen von den meisten Konsumenten noch als Service und nicht als Ärgernis wahrgenommen werden. Wie ihm dieses vermeintlich rückwärtsgewandte Kunststück gelingen soll? Mithilfe von künstlicher Intelligenz.
Von Cara Hönkhaus
Lerallut ist Engineering Director im AI Lab der Werbeplattform Criteo. Der französische Computerwissenschaftler arbeitet in der Hauptstadt der schönen Künste, in direkter Nachbarschaft zu den Studios der großen Mode-Designer, an den KI-Technologien von morgen. „Die Grundidee und der ganze Sinn des AI Labs ist es, künstliche Intelligenz für Marketing-Zwecke zu nutzen“, erzählt Lerallut. „Wir haben einen Algorithmus entwickelt, welche Produkte der Voraussagen sich ein bestimmter treffen Konsument kann, für als nächstes interessieren könnte.“ Nicht ohne einen gewissen Stolz schiebt er nach: „Das ist dann der perfekte Moment, um personalisiert Werbung auszusteuern.“
So wollen die Franzosen eine Brücke zwischen den Konsumenten und dem Marketing schlagen. Natürlich sind sie nicht die einzigen, die wissen, welchen erheblichen Wettbewerbsvorteil der effektive Einsatz von KI im Marketing bringen kann.
Marketing Manager haben verstanden: KI ist entscheidend für den Unternehmenserfolg
Diese Chance erkennt mittlerweile auch die Mehrheit der deutschen Marketing Manager. In einer Studie der SRH Hochschule Berlin unter Leitung von Prof. Dr. Claudia Bünte gaben 80 Prozent der Befragten an, dass künstliche Intelligenz wichtig für den Unternehmenserfolg sei. Allerdings nutzt nur gut ein Viertel entsprechende Technologien zurzeit selbst im Marketing. 55 Prozent sind davon überzeugt, dass der Einsatz von künstlicher Intelligenz in den letzten Jahren über die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen entscheiden wird. Sie planen deshalb künftig selbst den Einsatz entsprechender Tools. Vor allem für die Auswertung großer Datenmengen wird KI im Moment gebraucht, allerdings fühlen sich laut einer Studie der Digital-Agentur Wunderman 62 Prozent der Marketingentscheider nicht in der Lage, aus den Daten, die ihnen vorliegen, auch konkrete Erkenntnisse oder Maßnahmen abzuleiten. Die logische Konsequenz dieser Situation: Mittlerweile arbeitet eine Vielzahl von Tech-Dienstleistern daran, diese Aufgabe mithilfe von künstlicher Intelligenz zu erledigen. Eines dieser Start-ups ist Aifora. Die Düsseldorfer entwickeln eine KI-getriebene Software-Lösung für den Handel, mit der Retailer große Datenmengen analysieren können. So lassen sich beispielsweise Preise kanalübergreifend optimieren. „Die KI übernimmt repetitive und transaktionale Aufgaben, so dass wir Menschen uns auf kreative und strategische Aufgaben konzentrieren können“, erklärt David Krings, Co-Founder und CTO von Aifora.
KI für Analyse und Insights aus großen Datenmengen
Ebenfalls mit der Analyse großer Informationsmengen beschäftigt sich Gpredicitve. Das Hamburger Unternehmen schaut vor allem auf historische Daten und erstellt so Prognosemodelle für das künftige Kundenverhalten. Auf diese Weise lassen sich Conversion Rates oder Kundeninteraktionen voraussagen. „Für unsere Kunden ergibt sich die Möglichkeit, die eigenen Käufer deutlich besser einschätzen zu können. Unsere Auftraggeber generieren damit mehr Umsatz bei weniger Kosten. Für die Konsumenten bedeutet dies relevantere Ansprachen zu passenden Zeitpunkten und weniger gefühlten ‚Spam‘“, sagt Manuel Faza, Sales Director bei Gpredicitve. „Das heißt aber auch, dass die Kundenbewertungen komplexer und für den Menschen gegebenenfalls schwerer nachvollziehbar werden. Man muss hier dann den Statistiken vertrauen.“
KI für die Analyse von Content und automatisierte Werbeausspielung
Neben dem Nutzerverhalten wird KI aber längst auch für die Analyse von Content sowie die automatisierte Werbeausspielung genutzt. IP Deutschland setzte 2018 eine erste erfolgreiche Kampagne zusammen mit Rügenwalder Mühle um. In Echtzeit spielte der Vermarkter der Mediengruppe RTL kontextuell passende und dynamische Werbemittel rund um „Das perfekte Dinner“ aus. Die Werbung für die vegetarischen Produkte der Marke lief immer dann, wenn innerhalb der laufenden Sendung Begriffe wie Fleisch, Burger oder Pommes vorkamen. Die KI arbeitet dafür im Hintergrund, transkribiert das im Fernsehen Gesagte und identifiziert dann die zuvor festgelegten Keywords. Der Clou: Mit einer Sentiment-Analyse wurde die Werbung nur ausgespielt, wenn über Fleisch im positiven Kontext gesprochen wurde.
Immer wieder die gleiche Frage: Gefährdet künstliche Intelligenz Arbeitsplätze?
Optimierung und Effizienz sind allerdings auch typische Signalwörter, die für Arbeitsplatzabbau stehen. Dass KI auch im Marketing Jobs vernichten kann, bewies Zalando bereits vor einem Jahr. Der Online-Händler kündigte den Abbau von bis zu 250 Stellen an, weil man stattdessen stärker auf Technologien wie KI setzen wollte. Auch dazu hatte die SRH deutsche Marketing Manager befragt. Demnach glauben 85 Prozent, dass KI das Marketing stark verändern wird, sind aber größtenteils der Meinung, dass die Mitarbeiteranzahl in Marketing-Teams gleichbleibt oder wächst (64 Prozent). Allerdings dürften sich die Konstellationen ändern. So rechnen knapp zwei Drittel mit einer steigenden Anzahl Data Scientists, während gleichzeitig 71 Prozent nicht glauben, dass dafür die Anzahl der Kreativen im Team sinken wird.
Unternehmen wie Teads arbeiten bereits unter Hochdruck daran, dass Algorithmen die Werbe-Schaffenden bei kreativen Prozessen unterstützen.
Gesellschaft und Wirtschaft haben die Bedeutung von KI erkannt, nur die Politik hinkt hinterher
Die KI-Revolution, ob in der Medizin oder im Marketing, gibt es jedoch nicht zum Nulltarif. Die Entwicklung der entsprechenden Systeme ist kostenintensiv und längst haben fast alle Staaten entsprechende Förderprogramme aufgelegt. Besonders engagiert gehen in diesem Bereich die USA und China zu Werke. Deutschland plant bis zum Jahr 2025 lediglich die Bereitstellung von drei Milliarden Euro.
Vor gut einem Jahr initiierte der französische Präsident Emmanuel Macron die Förderung mehrerer Institute. Zudem stellt Frankreich 1,5 Milliarden Euro zwischen 2018 und 2023 für das Programm „AI for Humanity“ zur Verfügung. Dabei möchte Paris nicht nur monetäre Anreize für KI-Innovationen schaffen, sondern künftig die Offenlegung von Algorithmen vorschreiben. Macron schlug zudem eine engere europäische Zusammenarbeit vor, um global betrachtet mithalten und mitgestalten zu können.
Das ist allerdings noch Zukunftsmusik. Mit einem kollaborativen und EU-weiten-Ansatz, wie ihn beispielsweise die Datentochter der Telekom Emetriq immer propagiert, hätte die Tech- und Werbebranche aus Europa weit bessere Chancen gegen die scheinbare Übermacht anderer Nationen.
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(Beitragsbild: Originalfoto: Thomas Koziel, modifiziert von Deepart.io im Stile von Alphonse Mucha)